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Folge 187: Demenz – wenn die eigene Wahrheit nicht mehr der Wirklichkeit entspricht

In diesem Beitrag bekommst du

  • einen Blick Hinter die Kulissen eines demenzkranken Menschen
  • und erhältst Handlungsempfehlungen zum Umgang mit ihnen
Born to Pflege Talk der Podcast für Pflegekräfte

Folge 187: Demenz – wenn die eigene Wahrheit nicht mehr der Wirklichkeit entspricht

Soziologe Hans-Jürgen Wilhelm im B2P Talk mit Tobias Gross

Tobias Gross: Jeder hat das Bedürfnis dazuzugehören. Menschen mit Demenz haben dieses Bedürfnis ebenfalls. Was können Pflegekräfte tun, um demenzkranken Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln? Das Fachgebiet der Soziologie befasst sich mit dem Miteinander, worum es noch geht?

Hans-Jürgen Wilhelm: Ich habe Soziologie studiert, bin aber eher Praktiker statt Theoretiker. Wie bekommen wir es als Individuum hin, gemeinsam etwas zu tun? Eigentlich ein sehr praktisches Themenfeld. Selbst wenn man nur fernsieht, agiert man mit anderen.

Tobias Gross: Was hat das mit Demenz zu tun?

Hans-Jürgen Wilhelm: Wir alle spielen Theater, es gibt verschiedene Bühnen: Arbeitswelt, private Welt, etc. auf jeder Bühne spielt man unterschiedliche Rollen. Ich selbst weiß, welche Rolle ich habe und die anderen wissen es auch. Ich bin z.B. Stürmer auf dem Fußballfeld, nicht Ersatzmann, deshalb verhalte ich mich auch entsprechend.

Der demente Mensch schafft es nicht die Bühne zu finden, sich zu erklären, auf welcher Bühne er sich befindet und so weiß er nicht, welche Rolle er zu spielen hat.

Tobias Gross: Kann man nachvollziehen, was im Kopf eines Demenzkranken vor sich geht, warum er so verunsichert ist?

Hans-Jürgen Wilhelm: Ein demenzkranker Mensch hat eine genaue Vorstellung, was er oder sie ist und tut. Sie nimmt sich z.B. als 20jähriges Mädchen wahr, das zur Arbeit gehen möchte, ist aber eine 90jährige im Pflegeheim. Sie versteht nicht, warum plötzlich eine 50jährige ihre Tochter sein soll. Das Umfeld reagiert also anders, als der kranke Mensch es erwartet. Dies führt zu Verunsicherung, Aggressivität, Abwehrhaltung…

Tobias Gross: Du hast ein Buch geschrieben, „Gefangene ihrer Wahrheit: Wahrheit, Wirklichkeit und Normalität in der stationären Altenpflege“. Beschreibe uns bitte dieses Modell.

Hans-Jürgen Wilhelm: Das war das Thema meiner Promotion. Wahrheit – Wirklichkeit. In jeder Wirklichkeit gilt gewöhnliche Normalität. Ich weiß z.B., dass ich mir in der Kirche kein Bier aufmache und auf dem Fußballplatz nicht hinknie.

Dinge die wir in der Gesellschaft, im alltäglichen Handeln voraussetzen, sind bei demenzkranken Menschen nicht gegeben.

Ein gutes Beispiel ist Don Quichotte. Er glaubte, es gibt einen bösen Zauberer, der seine Kämpfer in Windmühlen verwandelte, deshalb kämpfte er gegen Windmühlen und die anderen dachten er ist bescheuert.

Tobias Gross: Die 23jährige männliche Pflegekraft könnte dann z.B. zum Arbeitskollegen werden, mit dem man anbandeln kann?

Hans-Jürgen Wilhelm: Ja. Hier ein Beispiel. Eine Demenzkranke hat Geburtstag, ein Mitarbeiter sitzt mit der Familie am Tisch, um sie beim Essen zu unterstützen. Sie versucht, das ganze in einen Rahmen zu bringen, den sie sich erklären kann. Sie klopft also mit dem Kaffeelöffel an ihr Glas und gibt aus diesem Grund ihre Verlobung bekannt. Die Familie ist überrascht oder vielleicht sogar verärgert. Das macht ein dementer Mensch ständig, er versucht, etwas in einen Rahmen zu bringen, der für ihn oder sie erklärbar ist.

Wir kommen schnell ins Bewerten von demenzkranken Menschen.

Während meiner Promotion kam eine Pflegekraft auf mich zu, ich war Heimleiter zu der Zeit. Ein Patient fummelte oder wurde aggressiv… und sie konnte sich nicht erklären, warum. Ich habe sie dann begleitet und Folgendes erlebt.

Sie fragt „Herr Müller, wollen wir nicht ins Bett gehen?". Sie geht mit ihm ins Zimmer und möchte ihm die Hose ausziehen. Entweder wird er aggressiv oder er versucht, ihr die Bluse auszuziehen. Eigentlich ist er der einzige, der sich vernünftig verhält. Für ihn ist die Situation eindeutig. Wenn er das nicht will, wird er aggressiv, wenn er es gut findet, versucht er, sie ebenfalls auszuziehen. Das führt natürlich zu Missverständnissen und zeigt sehr gut die Schwierigkeit im Umgang mit dementen Menschen und die Feinfühligkeit, die es braucht.

Tobias Gross: Eigentlich muss man grinsen, wenn man das hört, obwohl es sehr ernst ist, denn es kommt in solchen Fällen zu unfassbaren Spannungen und Herausforderungen, denen Pflegekräfte gegenüberstehen.

Hans-Jürgen Wilhelm: Wir nehmen Wahrheiten als gegeben. Z.B. in der Bäckerei wissen wir, dass die Frau hinter der Theke die Verkäuferin ist. Im Umgang mit dementen Menschen kann ich aber nicht sagen: hallo, sie sind dement und ich bin die Pflegekraft. Ich weiß nicht, in welcher Welt der demente Mensch lebt, auf welcher Bühne er oder sie in diesem Moment steht. Dieses Wissen ist die Grundvoraussetzung, um sensibel damit umzugehen. Ich brauche hierfür einen gewissen Handwerkskoffer, um damit umzugehen.

Was gehört denn in diesen Handwerkskoffer?

Fachwissen, Empathie, Erfahrung. Es gibt nicht nur eine Methode, die funktioniert. Ich muss auf jeden Bewohner, auf jede Situation anders reagieren. Ich brauche Flexibilität. Für Menschen mit starken Strukturen ist der Umgang mit dementen Menschen sehr schwer. Wie bekomme ich es hin, dass der Bewohner am Schluss gewaschen im Bett liegt?

Tobias Gross: Schaffe ich das über Nachfrage?

Hans-Jürgen Wilhelm: Ja. Kurzzeitpflege ist deshalb sehr schwierig. Beispiel aus der Tagespflege: immer, wenn eine Dame, die in der Tagespflege sehr nett und entspannt war, im Bus saß, war sie sehr aggressiv. Sie hat die anderen, wenn sie einstiegen, beleidigt. Es hat sich herausgestellt, dass sie früher im Lebensmittelladen geputzt hat und früher mit anderen im Bus dorthin fuhr. Deshalb regt sie sich nun darüber auf, dass jetzt nur alte und gebrechliche Menschen „eingestellt“ wurden zum Putzen. Dieses Wissen bekomme ich aber nur über die Zeit.

Tobias Gross: Also ist es wichtig, sich biografisches Wissen anzueignen? Das heißt also, seid sensibel. Versucht herauszufinden, auf welcher Bühne der Bewohner ist. Versucht mit der Situation zu spielen.

Hans-Jürgen Wilhelm: Man solle keine Angst davor haben, es richtig zu machen und Lust darauf haben zu spielen und zu improvisieren. Es ist viel Erfahrung und Empathie von Nöten. Auf der Gefühlsebene kann ich einen dementen Menschen eigentlich immer erreichen. Er ist ja in seinem Verhalten ein ganz normaler Mensch, er geht einfach von einer anderen Wirklichkeit aus.
Eine junge Kollegin starrte einer Bewohnerin längere Zeit in die Augen, weil sie gelernt hatte, dass man Demente nicht von hinten ansprechen soll. Langes Starren ist aber grenzüberschreitend und deshalb reagierte die Bewohnerin aggressiv. Dieses falsche Verhalten seitens der Pflegekraft kommt von der Angst, alles richtig machen zu wollen.
Ich komme aus der Generation, in der man noch Zivildienst machen durfte. Die Zivis hatten es teilweise leichter, weil sie unbeschwerter mit den Bewohnern umgegangen sind und sehr spielerisch unterwegs waren.

Tobias Gross: Lebensdetails finden ja nur im Gespräch mit Bewohnern statt. Man sollte das also dokumentieren, um es auch für KollegInnen festzuhalten?

Hans-Jürgen Wilhelm: Biografie-Arbeit ist kein Thema, das man in der ersten Woche abschließen sollte. Ein Fragebogen am Anfang ist gut, aber reicht nicht aus. Z.B. ein ehemaliger Bäcker wird von der Pflegekraft um 4 Uhr morgens aus dem Bett geworfen aufgrund seiner Biografie, obwohl er seinen Beruf nicht mochte und endlich mal ausschlafen möchte. Es geht darum, den Bewohner kennenzulernen. Vielleicht ist ihm das Hobby wichtiger, als der ehemalige Beruf und man findet darüber den Zugang.

Tobias Gross: Ich habe mal gelesen, wir arbeiten mit Menschen, nicht mit Steinen, Holz oder Computern. Du hast toll ausgeführt, WAS alles dazugehört, um gut mit dementen Menschen zu arbeiten.

Herzlichen Dank für die Einblicke und Erklärungen.

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